Warum wir vor der Stadt wohnen

Buchcover Warum wir vor der Stadt wohnen

„Seit wir vor der Stadt wohnen, geht es uns immer besser. Wir wohnen in einem großen Haus, das aussieht wie die Häuser rechts und links davon. Wir haben keinen Garten, aber hinter dem Haus wachsen Blumen. Die Fahrräder stellen wir in den Keller. Wir fürchten uns nicht vor der Dunkelheit. Wir hören die Glocken von drei Kirchen schlagen und manchmal den Wind und manchmal den Regen. Vieles ist jeden Tag gleich und manches ist jeden Tag anders. Den Großvater vermissen wir sehr, aber der Onkel kommt jeden Montag zu Besuch.  Dann erzählt er uns, was er gelesen hat oder was ihm die Frau aus dem Käsegeschäft gesagt hat. Die Tante hat kürzlich geschrieben, dass sie wieder Geige spielt und sich freuen würde, wenn wir sie einmal besuchten.
Vier Ecken hat unser Haus, vier Jahreszeiten unser Jahr, vor vier Jahren zogen wir vor die Stadt, und hier wohnen wir und hier werden wir wohl noch lange bleiben.“

Diesem Zitat gehen 17 Wohn-Stationen voraus! Die "vier" wird in ihnen zu einer magischen Zahl, denn sie leitet in beinahe jeder den Countdown für einen Umzug ein, weil es in der durch die „Welt“ ziehenden Großfamilie immer eine Person gibt, die mit den Gegebenheiten nicht zurechtkommt. In der ersten Geschichte „Als wir im Haus mit der blauen Lampe wohnten“ klingt das so: „Der Vater las vier Zeitungen, die Mutter kaufte drei Stühle, die Großmutter strickte zwei Paar geringelte Socken für jeden von uns und der Großvater verlor eine Sonnenbrille. Die Schwester aber war immer traurig. Deshalb zogen wir in den Trolleybus.“ 
Eine Ich-Erzählstimme führt uns in dieser Suche nach einem Platz für alle. Im Trolleybus, im Kino, auf dem Dach der Kirche und sogar nirgendwo versucht das Ich, das Beste aus der jeweiligen Lage zu erzählen. Im Kino musste man erst am Nachmittag aufstehen, hatte jeden Abend Besuch und aß Eis und Popcorn. Wenn dann aber die Schwester auf die Idee kommt, nach Casablanca auszuwandern, wird es Zeit für einen Umzug. Dass man auf dem Hut des Onkels, im Geigenkasten der Tante und im Traum wohnen kann, überrascht bald keine:n Leser:in mehr.
An keiner Stelle ruft der Text ein "Schau hin, die haben keinen Platz" aus. Trotzdem nistet sich der Gedanke an eine Odyssee einer flüchtenden Familie ein - ins Wunderbare verfremdet liegt unter dieser Ebene eine verzweifelte Suche nach einem Ort zum Bleiben. 
Jutta Bauer begleitet die Familie mit kleinen Schwarz-weiß-Zeichnungen wie mit einem Laufband. Sie zieht beladen mit Teppich, Stuhl, Büchern unter dem Text über alle Buchseiten. Vor allem aber ist die rechte Hälfte jeder Doppelseite für ein ganzseitiges Bild reserviert, welches sich mit dem Text gegenüber in Verbindung setzt. Wunderbar die „57 Arten von Schneeflocken“! Winzige Autos, Schnecken, Mäuse, Engel, Blumen … rieseln aus dem schwarzen Himmel, als die Familie im weißen Zelt im Schnee wohnt. Als auf dem Dach der Kirche zweimal die Mutter nicht gefunden werden kann, zeigt das Tableau, wo nicht gesucht wurde. Jutta Bauer gebraucht Buntstifte, pur oder mit darunter liegenden Aquarellfarben. Ihre Bilder begegnen dem melancholischen Ton von Peter Stamms Texten mit gedeckter Farbigkeit – und mit Witz! Immer steckt irgendwo eine Katze und zu den Umzugsutensilien gehört verlässlich der Stuhl mit der ziselierten Lehne. Kinder spielen in jeder Wohnsituation, nur ganz allein wohnen, das geht nicht.
Der Sauerländer Verlag hat das Buch 2020 mit etwas verändertem Cover noch einmal aufgelegt, es ist also noch lieferbar.
Nach diesem Wieder-Betrachten: ein fast unverzichtbares Buch …

 

Peter Stamm
Warum wir vor der Stadt wohnen
Illustration: 
Jutta Bauer
Beltz und Gelberg, Fischer / Sauerländer
2005, 2020
42 Seiten
Rubrik: