Jutta Bauer ist am 10. September plötzlich gestorben. Was für eine traurige Nachricht! Jutta Bauers Bilder sind allen vertraut, die in den vielen Bereichen, in denen Kinder- und Jugendliteratur wichtig ist, unterwegs sind. Zum Beispiel sind das die Bilder vom fünfjährigen Kindergartenkind Juli, oder die Pappbilderbücher von Emma, der kleinen, lebendigen Bärin im rot-weiß getupften „Kleid“, vielleicht auch die Geschichte von Jeppe, dem Boten des Königs. Die Größeren und die Erwachsenen kennen „Opas Engel“ und "Schreimutter" und „Selma“ das Schaf, das sein Glück im Augenblick findet, in dem, was es gerade tut; und allen ist Malwida, die „Königin der Farben“ ein Begriff! Jutta Bauer schuf nicht nur eigene Bücher, sondern immer auch Bilder für die Texte anderer Autor:innen: Christine Nöstlinger, Kirsten Boie (die Juli-Bücher), Jürg Schubiger, Franz Hohler, Zoran Drvenkar, Peter Stamm. Zudem ist ihr Ruf als Karikaturistin ebenso groß ist wie der als Buch-Bilder-Künstlerin.
Jutta Bauer war äußerst produktiv. Es ist also kaum verwunderlich, dass etliche ihrer Werke, auch prägende, nicht mehr lieferbar sind. An drei solcher Bücher mit ihren Bildern soll hier erinnert werden – in der Hoffnung, dass der Gebraucht-Buchmarkt es richten möge, oder die örtliche Bibliothek ...
Ich sitze hier im Abendlicht ..

Es heißt, dass Jutta Bauer eine geschriebene und gezeichnete Geschichte ihrer Familie nicht vollenden konnte. Ihr Interesse an (alltäglichen) Menschen-Geschichten schlägt sich auch in ihrem Buch „Ich sitze hier im Abendlicht …“ nieder, welches sie im Rahmen des Hausbuch - Programms im Gerstenberg Verlag gestalten konnte.
Sie kommentiert darin ganz subjektiv gesammelte und subjektiv geordnete Briefe mit Vignetten und kleinen Zeichnungen: schwarz-weiße, mit zarter Farbe unterlegte Portraits der Briefautor:innen, den jeweiligen Briefen beigefügt, und solche mit Buntstift kolorierte für bestimmte Sätze aus den Briefen – wohl ihre Lieblingssätze.
Lieber Maulwurf, Herzliche Grüße. Maulwurf / Lieber Maulwurf, du fehlst mir. Maulwurf / Maulwurf, du musst eine Reise machen.
Diese Briefe eines einsamen Mauwurfs, der nur Briefe bekommt, wenn er an sich selbst schreibt, liest man in der Rubrik "Erfundene Briefe". Dann folgen Küchentisch-Zettel von Jutta Bauers damals kleinem Sohn, eingestreut über das ganze Buch bebilderte Briefcouverts ihrer Kolleg:innen. Die Sammlung umfasst Briefe berühmter Schriftsteller an ihre Kinder (Goethe, Tolkien, Chechov ..), und die ebenso berühmter an ihre Mütter (Saint-Exupery, Kästner ..). Außerdem Liebesbriefe und Alltagsbriefe, lustige, sarkastische, über Krankheit und alles. Schließlich berührende und nachdenkliche und schmerzliche Briefe aus dem Gefängnis an Freund:innen und Angehörige draußen (Rosa Luxemburg, Kim Malte-Bruun).
Das ist spannend zu lesen, weil in jedem Brief eine Haltung, ein Gefühl, Erzählwille und Zugehörigkeit zum Ausdruck kommen. Dazu Jutta Bauers leichter, sicherer Strich, ihre Kunst, jede figürliche Bewegung darstellen zu können. Ihre Karikaturen sind niemals mit Verachtung gepaart. Sie macht mit einem einzigen kleinen Bild Emotionalität sichtbar.
Das Buch kann von vorn nach hinten gelesen, oder an jeder Stelle aufgeschlagen werden. Vor allem will es immer wieder zur Hand genommen werden, vielleicht landen auch Briefe der Leser:innen zwischen den Seiten? Ein Hausbuch eben.
Ein und alles

Das war ein Mammut-Projekt auf zwei Seiten! Christine Nöstlinger, die berühmte österreichische Autorin, lädt Kinder-Leser:innen ein, jeden Tag des Jahres mit einem Gedicht oder einem Brief, einer Liste, einer Fortsetzungs-Geschichte, und mit besonderen und alltäglichen Ereignissen diverser Buch-Kinder zu flankieren. 365 Tage voller verschiedener Texte und unterschiedlichster Textsorten. Haltepunkte und Gliederung in der Fülle bilden Monatsblätter, witzig gedeutete Sternzeichen an entsprechender Stelle, die Märchenblätter. Wer wusste schon, dass in Märchenbüchern den Märchen falsche Happy Enden verpasst werden? Dass Rumpelstilzchen sich nicht zerreißt, sondern letztlich die Königin heiraten wird? Schließlich haben die beiden beim Spinnen viel Zeit miteinander verbracht. Auch die Was-wäre-wenn-Geschichten und immer wiederkehrende Figuren, die Rat-und-Schlag erteilende Tante Olga zum Beispiel, oder der TV-Karl, oder die Schaf-Giraffe-Animostäten rhythmisieren die 365 Tage. Kinder-Sicht spielt die Hauptrolle: auf sich selbst, die Familie, und auf die Welt der Erwachsenen überhaupt:
Letzte Warnung - werte Erwachsene,
die Maikäfer und die Frösche habt ihr umgebracht,
die Libellen und die Schlangen habt ihr totgemacht.
Um jedes Stückchen Wiese legt ihr einen Zaun,
jedes verwilderte Grundstück müsst ihr verbaun.
Die Eidechsen und die Fischotter sterben aus,
keine Maus, kein Wiesel, keine Ratte, keine Laus
dürfte, wenn es nach euch geht, überleben.
Nur Beton, Stahl und Plastik soll es geben!
Die Luft ist voll Blei, die Wolken sind giftig,
die Vögel verrecken, euch ist das nicht wichtig.
[...]
Nöstlingers Texte sind in der emanzipatorischen Aufbruchstimmung der 70ger und 80ger Jahre des letzten Jahrhunderts verwurzelt, entsprechend aufmüpfig und ohne Angst vor der Verbalisierung negativer Gefühle kommen sie daher.
Jutta Bauer zeigt sich vor allem als Karikaturistin, fokussiert auf die Darstellung von Emotionen. Die Fülle und Vielseitigkeit der Bilder stehen jener der Texte in nichts nach – und in den Darstellungen der Kinder und Erwachsenen ist alles zu sehen: Freude, Enttäuschung, Ärger, Zorn, sich einsam fühlen, stolz sein, Verschmitztheit. Und auch hier Jutta Bauers mit Leichtigkeit gelingende Verbildlichung von Bewegung: laufen, springen, schreiten, sich zusammenkauern, sich verkriechen …
Ganz und gar zeitlos wirken die Bilder, Nöstlingers Texte scheinen historischer, aus einer anderen Zeit, obwohl einige, wie der oben zitierte nach fast 35 Jahren beklemmend heutig wirken! Es ist so: nur wenige aktuelle Bücher für Kinder an der Schwelle zum Jugendlich-Sein setzen sich so intensiv fragend und schonungslos urteilend mit ihren Eltern, mit Erwachsenen auseinander.
Warum wir vor der Stadt wohnen

„Seit wir vor der Stadt wohnen, geht es uns immer besser. Wir wohnen in einem großen Haus, das aussieht wie die Häuser rechts und links davon. Wir haben keinen Garten, aber hinter dem Haus wachsen Blumen. Die Fahrräder stellen wir in den Keller. Wir fürchten uns nicht vor der Dunkelheit. Wir hören die Glocken von drei Kirchen schlagen und manchmal den Wind und manchmal den Regen. Vieles ist jeden Tag gleich und manches ist jeden Tag anders. Den Großvater vermissen wir sehr, aber der Onkel kommt jeden Montag zu Besuch. Dann erzählt er uns, was er gelesen hat oder was ihm die Frau aus dem Käsegeschäft gesagt hat. Die Tante hat kürzlich geschrieben, dass sie wieder Geige spielt und sich freuen würde, wenn wir sie einmal besuchten.
Vier Ecken hat unser Haus, vier Jahreszeiten unser Jahr, vor vier Jahren zogen wir vor die Stadt, und hier wohnen wir und hier werden wir wohl noch lange bleiben.“
Diesem Zitat gehen 17 Wohn-Stationen voraus! Die "vier" wird in ihnen zu einer magischen Zahl, denn sie leitet in beinahe jeder den Countdown für einen Umzug ein, weil es in der durch die „Welt“ ziehenden Großfamilie immer eine Person gibt, die mit den Gegebenheiten nicht zurechtkommt. In der ersten Geschichte „Als wir im Haus mit der blauen Lampe wohnten“ klingt das so: „Der Vater las vier Zeitungen, die Mutter kaufte drei Stühle, die Großmutter strickte zwei Paar geringelte Socken für jeden von uns und der Großvater verlor eine Sonnenbrille. Die Schwester aber war immer traurig. Deshalb zogen wir in den Trolleybus.“
Eine Ich-Erzählstimme führt uns in dieser Suche nach einem Platz für alle. Im Trolleybus, im Kino, auf dem Dach der Kirche und sogar nirgendwo versucht das Ich, das Beste aus der jeweiligen Lage zu erzählen. Im Kino musste man erst am Nachmittag aufstehen, hatte jeden Abend Besuch und aß Eis und Popcorn. Wenn dann aber die Schwester auf die Idee kommt, nach Casablanca auszuwandern, wird es Zeit für einen Umzug. Dass man auf dem Hut des Onkels, im Geigenkasten der Tante und im Traum wohnen kann, überrascht bald keine:n Leser:in mehr.
An keiner Stelle ruft der Text ein "Schau hin, die haben keinen Platz" aus. Trotzdem nistet sich der Gedanke an eine Odyssee einer flüchtenden Familie ein - ins Wunderbare verfremdet liegt unter dieser Ebene eine verzweifelte Suche nach einem Ort zum Bleiben.
Jutta Bauer begleitet die Familie mit kleinen Schwarz-weiß-Zeichnungen wie mit einem Laufband. Sie zieht beladen mit Teppich, Stuhl, Büchern unter dem Text über alle Buchseiten. Vor allem aber ist die rechte Hälfte jeder Doppelseite für ein ganzseitiges Bild reserviert, welches sich mit dem Text gegenüber in Verbindung setzt. Wunderbar die „57 Arten von Schneeflocken“! Winzige Autos, Schnecken, Mäuse, Engel, Blumen … rieseln aus dem schwarzen Himmel, als die Familie im weißen Zelt im Schnee wohnt. Als auf dem Dach der Kirche zweimal die Mutter nicht gefunden werden kann, zeigt das Tableau, wo nicht gesucht wurde. Jutta Bauer gebraucht Buntstifte, pur oder mit darunter liegenden Aquarellfarben. Ihre Bilder begegnen dem melancholischen Ton von Peter Stamms Texten mit gedeckter Farbigkeit – und mit Witz! Immer steckt irgendwo eine Katze und zu den Umzugsutensilien gehört verlässlich der Stuhl mit der ziselierten Lehne. Kinder spielen in jeder Wohnsituation, nur ganz allein wohnen, das geht nicht.
Der Sauerländer Verlag hat das Buch 2020 mit etwas verändertem Cover noch einmal aufgelegt, es ist also noch lieferbar.
Nach diesem Wieder-Betrachten: ein fast unverzichtbares Buch …
