
Das war ein Mammut-Projekt auf zwei Seiten! Christine Nöstlinger, die berühmte österreichische Autorin, lädt Kinder-Leser:innen ein, jeden Tag des Jahres mit einem Gedicht oder einem Brief, einer Liste, einer Fortsetzungs-Geschichte, und mit besonderen und alltäglichen Ereignissen diverser Buch-Kinder zu flankieren. 365 Tage voller verschiedener Texte und unterschiedlichster Textsorten. Haltepunkte und Gliederung in der Fülle bilden Monatsblätter, witzig gedeutete Sternzeichen an entsprechender Stelle, die Märchenblätter. Wer wusste schon, dass in Märchenbüchern den Märchen falsche Happy Enden verpasst werden? Dass Rumpelstilzchen sich nicht zerreißt, sondern letztlich die Königin heiraten wird? Schließlich haben die beiden beim Spinnen viel Zeit miteinander verbracht. Auch die Was-wäre-wenn-Geschichten und immer wiederkehrende Figuren, die Rat-und-Schlag erteilende Tante Olga zum Beispiel, oder der TV-Karl, oder die Schaf-Giraffe-Animostäten rhythmisieren die 365 Tage. Kinder-Sicht spielt die Hauptrolle: auf sich selbst, die Familie, und auf die Welt der Erwachsenen überhaupt:
Letzte Warnung - werte Erwachsene,
die Maikäfer und die Frösche habt ihr umgebracht,
die Libellen und die Schlangen habt ihr totgemacht.
Um jedes Stückchen Wiese legt ihr einen Zaun,
jedes verwilderte Grundstück müsst ihr verbaun.
Die Eidechsen und die Fischotter sterben aus,
keine Maus, kein Wiesel, keine Ratte, keine Laus
dürfte, wenn es nach euch geht, überleben.
Nur Beton, Stahl und Plastik soll es geben!
Die Luft ist voll Blei, die Wolken sind giftig,
die Vögel verrecken, euch ist das nicht wichtig.
[...]
Nöstlingers Texte sind in der emanzipatorischen Aufbruchstimmung der 70ger und 80ger Jahre des letzten Jahrhunderts verwurzelt, entsprechend aufmüpfig und ohne Angst vor der Verbalisierung negativer Gefühle kommen sie daher.
Jutta Bauer zeigt sich vor allem als Karikaturistin, fokussiert auf die Darstellung von Emotionen. Die Fülle und Vielseitigkeit der Bilder stehen jener der Texte in nichts nach – und in den Darstellungen der Kinder und Erwachsenen ist alles zu sehen: Freude, Enttäuschung, Ärger, Zorn, sich einsam fühlen, stolz sein, Verschmitztheit. Und auch hier Jutta Bauers mit Leichtigkeit gelingende Verbildlichung von Bewegung: laufen, springen, schreiten, sich zusammenkauern, sich verkriechen …
Ganz und gar zeitlos wirken die Bilder, Nöstlingers Texte scheinen historischer, aus einer anderen Zeit, obwohl einige, wie der oben zitierte nach fast 35 Jahren beklemmend heutig wirken! Es ist so: nur wenige aktuelle Bücher für Kinder an der Schwelle zum Jugendlich-Sein setzen sich so intensiv fragend und schonungslos urteilend mit ihren Eltern, mit Erwachsenen auseinander.