Wo die wilden Kerle wohnen

Buchcover Wo die wilden Kerle wohnen

DAS klassische Allmachts-Tagtraum-Traumreise-Buch zuerst! Lakonisch knapp beginnt es:

Am Abend, als Max seinen Wolfspelz trug
und nur Unfug im Kopf hatte,
schalt seine Mutter ihn „Wilder Kerl“!
„Ich fresse dich auf“ sagte Max,
und da musste er ohne Essen ins Bett.

Ein erstaunlich akzeptables Intro, nur selten stellt ein Kind beim Vorlesen den Wolfspelz, den Unfug oder die Strafe in Frage. Wohl auch deshalb nicht, weil es ja jetzt erst losgeht:  In der Nacht wuchs ein Wald in seinem Zimmer, der wuchs und wuchs … Wow! Und dann „war da ein Schiff nur für Max“ und dann die Landung auf der Insel der wilden Kerle – welche fürchterlich brüllen, mit ihren fürchterlichen Augen rollen und ihre fürchterlichen Krallen zeigen, die Max aber trotzdem zähmen kann mit seinem eigenen „fürchterlichen“ Blick ohne Zwinkern. Da sind die Kerle überwältigt und machen Max zu ihrem König – der sie daraufhin befehligt: Und jetzt machen wir Krach!
Ab hier wird deutlich, dass Max den vorher so knapp erzählten Zusammenstoß mit seiner Mutter in seinen Traum integriert, allerdings ausführlich und mit umgekehrten Verhältnissen: Max hat die Befehlsgewalt! Er bestimmt Ablauf und Dauer des wilden Treibens!  Ausführlich erzählt meint hier ausführlich gezeigt, auf mehreren doppelseitigen textlosen Tableaus ist zu sehen, was „Krach machen“ sein kann: Springen, Huckepack reiten, in Bäumen hangeln und vor allem laut schreien – so kann Max‘ aufgerissener Mund und expressiver Körperausdruck gedeutet werden, bevor er die wilden Kerle unvermittelt mit „Seid still“ ohne Essen ins Bett schickt.  

Da sitzt er allein mit Wolfspelz und Krone, und als dann auch noch ein Essensduft über das Meer heranweht, möchte Max nicht mehr König der wilden Kerle sein, sondern nur noch nach Hause, „wo ihn jemand am allerliebsten hat“. Sein Schiff ist noch da! „Wir fressen dich auf“ drohen die wilden Kerle, aber Max segelt fort, in sein Zimmer, wo das Essen auf ihn wartet.

„Wo die wilden Kerle wohnen“ ist ein Klassiker der Kinderliteratur in dem Sinn, dass das Buch über die Jahre (es erschien zuerst 1963, 1967 auf Deutsch) nichts von seiner Bedeutung verloren hat, dass seine Erzählung Kinder und Erwachsene auch aktuell erreicht. Woran das liegen mag? Daran, dass Max sich trotz Streits mit seiner Mutter geborgen fühlt und das letztere sich ihrer Schroffheit bewusst wird. Daran, dass es Offenheit für Interpretationen gibt: ein Traum? Eine Phantasie-Reise? Ein Jetzt-zeig-ich-dirs-mal Wunsch? Daran, dass Text und Bild genial aufeinander bezogen sind. An den großen wilden Kerlen, die altmeisterlich gezeichnet und sanft coloriert wie eine Mischung aus Fabelwesen und dicken tapsigen Kindern in Wolfspelzvarianten aussehen. Daran, dass 'wild und laut sein' genauso gilt wie 'wo mich jemand am allerliebsten hat'. Und nicht zuletzt an seinem Spielcharakter. Generationen von Kindern üben und übten den fürchterlichen Blick ohne Zwinkern, und sie brachen und brechen angesichts der Bilder ihrerseits in Geschrei und Hampelei aus, bis jemand ruft: Seid still!

Maurice Sendak
Wo die wilden Kerle wohnen
aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Schmölders
Diogenes Verlag
1971
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