
Nochmal Maurice Sendak, aber ganz anders. Begleitet von Comic-Zeichnungen wird eine verrückte Geschichte erzählt: Habt ihr schon von Micky gehört
wie er erwacht ist
vom Lärm in der Nacht und schrie: Ruhe da unten!
Und durch die Dunkelheit flog und aus den Kleidern,
am Vollmond vorbei zog und an Mama und Papa
hinein in den Schein
der Nachtküche?
Nein? Dann erzähle ich es euch – das steht nicht dort, könnte es aber, denn ab jetzt tauchen auch wir in die Geschichte ein. Sendak geht erzählerisch vor wie in den „Wilden Kerlen“, die Ausgangslage wird geklärt (dem Micky ist was Verrücktes passiert), dann kann der Spannungsbogen betreten werden.
Am Beginn stehen drei vollkommen identische, aus Mickys Perspektive riesige Bäcker, die Micky mit großen Holzlöffeln in einen Kuchenteig rühren und die riesige Schüssel samt Micky in den Ofen schieben. Das kennen wir doch? Max und Moritz wurden auf ähnliche Weise gebacken und entkamen lebendig. Auch Micky entkommt dem Ofen und dem Kuchenteig, springt aber geradewegs in den Brotteig, aus welchem er ein Flugzeug formt:
dehnte und bog ihn
formte und zog ihn
war zufrieden und schon
flog Micky im Brotteig
auf und davon.
Zum Zorn der Bäcker, die
Sprangen und eilten
nahmen den Becher und heulten
MILCH! MILCH!
Milch für den Kuchenteig!
Die besorgt Micky, der bis zur Milchstraße fliegt, dann Flugzeug Flugzeug sein lässt, in eine riesige Milchflasche eintaucht, den Rest Brotteig verliert und wieder nackt ist, aber einen Becher fest in der Hand hält. Den schöpft er voll Milch, taucht auf und gießt den begeisterten Bäckern die Milch in den Kuchenteig, ein neuer Kuchen wird gerührt und gebacken.
Micky allerdings glitt hinunter sehr tief/sprang in sein Bett/ war trocken, schlief.
Wir sind geneigt, von einem Traum zu sprechen, weil die Geschichte im Bett beginnt und mit dem (Wieder) Einschlafen endet. Ebensogut kann es sich um eine phantastische Geschichte handeln, die mit Augenzwinkern erzählt, warum es jeden Morgen verlässlich Kuchen gibt.
„In der Nachtküche“ ist ein Comic. Die Panels nehmen oft die ganze Buchseite ein, das Fallen wird in Phasen in mehreren Paneln nebeneinander dargestellt. Die Figuren sind ganz flächig angelegt, nur wenig Binnenzeichnung setzt Akzente. Manchmal haben die Bäcker oder auch Micky Sprechblasen, meistens wird das Lettering aber in Großbuchstaben als Block gesetzt. Hans Manz hat den im Original komplex gereimten Text überzeugend ins Deutsche übertragen, ebenfalls gereimt! Die schon erwähnte intertextuelle Verbindung zu Wilhelm Busch bleibt nicht die einzige, Sendak erweist vor allem Clays „Little Nemo“ -Stripes Referenz, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Anders als „Little Nemo“, dessen Erlebnisse immer mit dem Einschlafen beginnen und dem glücklichen Aufwachen enden, funktioniert „Micky“ anders herum, vom Aufwachen zum Einschlafen. Also kein Traum? Auf jeden Fall eine traumhafte „Traumhafte Geschichte“!