
Schon im Bett, aber noch wach ist das Kind in Jens Rassmus‘ poetischer Einschlaf-Geschichte. Nicht nur wach, nein hellwach, das Kind kann überhaupt nicht einschlafen. Dies und das stellt man sich in einer solchen Situation vor, ein Tier, das plötzlich ins Zimmer kommt, gehört wohl erstmal zu den etwas beängstigenden Möglichkeiten. Aber nicht so hier:
Ich lag im Bett und schlief nicht ein
war noch hellwach und ganz allein
Das plötzlich war an meiner Tür
ein Schatten erst
- und dann ein Tier
Wild sah es aus und schien doch zahm
Ich sagte KOMM
Das Nachttier KAM
Groß, riesig, in tiefem Nachtblau und zottig steht das Tier im Zimmer / im Bild und tatsächlich: furchterregend ist es nicht. Es scheint, wie das Schiff für Max bei den „Wilden Kerlen“ nur für dieses Kind gekommen zu sein – und sofort übernimmt das Kind das Kommando. Aufgesessen und raus aus dem Fenster, den Baum hinunter, über die Straße, über das Wasser, den Berg hinauf und in die dämmerblaue Welt hinaus!
Das Kind, eine kleine, mit wenigen Strichen gezeichnete Gestalt auf dem Rücken des Nacht-Tiers, dirigiert im Imperativ: Komm! Spring! Schwimm! Steig! Flieg! Und das Nachttier kam / sprang / schwamm / stieg / flog. Einerseits gehorsam und gleichzeitig als Möglichmacher dieser wunderbaren Abendreise, die das Kind auf dem Rücken manchmal locker reitend, mal knieend oder im Fell festgeklammert in vollen Zügen genießen kann, denn schiefgehen wird hier nichts.
Dass irgendwann doch das eigene Haus, das eigene Zimmer und das eigene Bett in Sicht kommen, ist das „normale“ Rückkehr-Motiv aus Traumreisen, und auch hier purzeln die Protagonisten aus der Höhe herunter nach Hause. Doch dann wird das Nacht-Tier gebeten, noch zu bleiben, dafür schrumpft das große zottelige Wesen auf Kuscheltier-Größe (übrigens ohne dass es schon vorher im Kinderzimmer herumlag), bleibt aber in seiner „tragenden“ Rolle, indem es sagt: SCHLAF – und ich SCHLIEF EIN …
Im (Tages) Licht betrachtet handelt es sich bei diesem Buch um ein Gedicht! Der Text ist gekennzeichnet durch poetische Ruhe, einen rythmischen Erzählfluss, welcher Lesbarkeit und vor allem auch Sprechbarkeit ermöglicht, und einen raffiniert erscheinenden Reim. Den letzten Vers jeder Strophe kann ein hörendes / schauendes Kind bald mitsprechen, obwohl sich nichts wiederholt. Der Gebrauch starker Verben am Schluss der jeweils letzten beiden Verse: Komm/kam, spring/sprang, flieg/flog … bewirkt, verbunden mit dem Umschlagen der Buchseite, sprachlich einen eindrücklichen Strophen-Abschluss, während sich für die Augen ein Bild über die ganze Doppelseite öffnet!
Und während noch die Stadt verschwand
lag vor uns schon ein weites Land
Vorbei an Hügeln, Wiesen, Seen
trug mich das Tier
- dann blieb es steh’n
stand regungslos im Uferschlamm
ich sagte SCHWIMM (umschlagen der Buchseite))
das Nacht-Tier SCHWAMM
Es ist das Meer, an dessen Ufer sie standen, es füllt die Seiten und kraftvoll pflügt das Nacht-Tier durch die Dünung!
Ein Bilderbuch zum immer wieder Hervorholen und mit dem Zeug zum Klassiker (was die beiden Sendak-Titel ja längst geworden sind), für kleine und große Leute.