Im Juni 2022 wurde ein Bilderbuch zum Thema Holocaust in die vom Deutschlandfunk initiierte Liste der „Besten 7 Bücher für junge Leser“ des Monats aufgenommen: „Die Geschichte von Bodri“. Ich kannte das Buch noch nicht, besorgte es mir und geriet unversehens in die Diskussion darüber, ob und wie im Bilderbuch und auch im Kinderbuch über den Holocaust gesprochen werden kann.
Um es vorweg zu nehmen: ja, man kann das tun, aber um den Preis der Reduktion, der Einschränkung, der Schlichtheit, wo eigentlich Komplexität herrscht, gar der Verharmlosung. Denn Erwachsene dürfen Kinder im Grundschulalter vielleicht beunruhigen, aber nicht verstören. Deshalb umfasst in den Büchern die Erzählung des „Alltags“ im Lager meist nur wenige Zeilen, das ist der Grund dafür, dass es in den meisten Kinderbüchern für die Jüdi:nnen ein „danach“ gibt, nach der Befreiung aus dem KZ oder aus einem Versteck, in einem neuen Leben. Es muss vom Weiterleben erzählt werden, obwohl dort, von dem erzählt wird, das Sterben die Regel war. Und das nationalsozialistische System zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung für Kinder in Sprache bringen, das geht fast gar nicht. „Wir sollten nicht mehr leben“ formuliert Rose Lagercrantz, Hedi Fried wählt den Zugang über Hitler: „Wie kann ein einzelner Mensch soviel Böses tun?“ Iwona Chemielewska zeichnet einen Viehwaggon …
Im Folgenden rezensiere ich drei Bücher, die versuchen, für junge Kinder ab 8 Jahren vom Holocaust zu sprechen.
Die Geschichte von Bodri
Eine Ich-Erzählerin lässt die Leser:innen an ihrer glücklichen Kindheit teilhaben. Zwei Nachbarsmädchen, die beste Freundinnen sind, zusammen spielen, klettern, herumtollen, Geheimnisse haben. Immer dabei: der eigene Hund Bodri und Bandi, der Hund der Freundin. Aus bürgerlichem Haus kommen beide Mädchen, man sieht es am Wohnungsinterieur und an der Kleidung, Faltenrock, Kleidchen, weiße Kniestrümpfe und schwarze Lack-Schuhe. Die Ich-Erzählerin ist Jüdin, ihre Freundin nicht.
Die Welt verändert sich, als die Ich-Erzählerin im Radio Adolf Hitler „schreien“ hört, Deutsch ist für sie eine fremde Sprache. Die Eltern sind beunruhigt und verunsichert, ja, sie haben zum Erstaunen und Entsetzen des Kindes Angst. Als sie nicht mehr mit ihrer Freundin spielen darf, nicht mehr auf der Parkbank sitzen darf, als Krieg kommt, als „Hitlers Soldaten“ die Familie abholen – da ist die Erzählerin sicher, dass Hitler sie hasst.
Bodri darf nicht mit auf den Transport.
Das Leben im Konzentrationslager ist sprachlich eine Skizze: Sträflingskleidung müssen sie anziehen, Holzschuhe tragen, sie dürfen keine Haare haben, aber Hunger und Durst. „Die Erwachsenen verschwanden“, „Wir sind fast gestorben in dem Lager, meine Schwester und ich.“ Die Vorstellung von Brodi, der sich mit anderen Hunden zusammen tut und lebt, und wartet, hält für die Erzählerin die Erinnerung an Fröhlichkeit und Unversehrtheit wach.
Dann wechselt die Erzählhaltung, und das Buch wird kurz wirklich zur „Geschichte von Bodri“. Bodri konnte die Tage nicht zählen. Er wartet und wartet und wartet durch die Jahreszeiten, hört schließlich „Bodri! Bodri!“ und traut seinen Ohren nicht. „Das ist sie!“
„Das war ich!“ Hitler ist tot, die Ich-Erzählerin und ihre Schwester leben.
Die Illustrationen sind skizzenhafte, manchmal flüchtige, aber emotionale Aquarelle, die wichtige Details beinhalten. Bedrohliches wird mit dunkelvioletten, an den Rändern zerfließenden Flächen dargestellt, die eine Szene überlagern. Auch die Deportation und das Lager werden bebildert. Die Illustratorin verwendet dafür zwei ikonografische Bilder: das des Kindes mit furchtsam erhobenen Händen, fotografiert bei der Liquidation des Warschauer Ghettos von einem SS-Mann (1), und das von einer Kindergruppe in viel zu großer Sträflingskleidung hinter dem Stacheldraht von Auschwitz, fotografiert bei der Befreiung (2). Ich bin über das erstgenannte gestolpert, weil es mir unangemessen erscheint, den Jungen auf dem Foto, sowie die Frau neben ihm (es ist nicht bekannt, ob sie zu dem Jungen gehört), beide ärmlich und gezeichnet, durch die Ich-Erzählerin und ihre Mutter in bunten Kleidern zu ersetzen, allen Hintergrund des Originalbildes wegfallen zu lassen. Dazu hängt über der Szene wie ein Damoklesschwert ein riesiges Hitlerbild,ebenfalls ein Zitat.
Auch über die Illustration der Ich-Erzählerin mit ihrer kleinen Schwester, die das Auschwitz-Foto zitiert, bin ich gestolpert: die große Gruppe der zerlumpten Kinder hinter dem Zaun ist nicht da, nur die beiden Mädchen an deren Stelle. Ein fragwürdiges Zitat m.E. auch dieses. Aber: insgesamt evozieren die Illustrationen von Stina Wirsén eine Menge Fragen, gut für ein Gespräch!
Hédi Fried, die die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat, berichtet hier für junge Leser von dem, was ihr nicht als Kind, aber als junge Frau widerfahren ist. Nach der Befreiung kamen sie und ihre Schwester mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Schweden. Sie ist eine der letzten Überlebenden, die schon vor vielen Kindern und Jugendlichen gesprochen hat. Sie selbst sagt, es sei wichtig, über den Holocaust Bescheid zu wissen – damit es nie wieder passiert.
(1) (2) Wikipedia, Child Survivors of Auschwitz
Zwei von jedem
Rose Lagercrantz ist Tochter einer Mutter, die die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat. Unter anderem oder vor allem ihre liebevolle Geschichte von Dunne, die sie 7 Bände durch das Auf und Ab eines Kinderlebens begleitet hat, machten sie hierzulande bekannt. Das Kinderbuch über den Holocaust entstand aufgrund einer Anfrage des schwedischen Rundfunks, der zu diesem Thema etwas für Kinder im Grundschulalter erarbeiten wollte. Rose Lagercrantz lässt einen erwachsenen Eli seine Geschichte erzählen. Es ist „nur“ in der Mitte auf wenigen Seiten eine Erzählung vom Holocaust, eine mit Leerstellen: „Jetzt muss ich eine Pause machen“, „Das, was dann kam, kann ich nicht aufschreiben“. Im übrigen bekommen wir Leser:innen eine Geschichte, die im „davor“ und „danach“ von der Liebe handelt.
Im Konzentrationslager wird Eli sehr, sehr krank. In Fieberträumen steht ihm Luli vor Augen, seine geliebte Freundin aus unbeschwerten Kindertagen. Luli hatte ihm schon einmal das Leben gerettet, in ihrem gemeinsamen Zuhause in Siebenbürgen. Für Eli hatte das ohne Vater und für Luli ohne Eltern bei ihrer alten Tante stattgefunden, und es war geprägt von unverbrüchlicher Freundschaft mit Luli. Luli konnte als einzige rennen wie er, überhaupt waren sie in seiner Erinnerung vor allem gerannt, auf der Flucht vor Vampiren und Ungeheuern zum Beispiel und oft einfach so. Schweres gab es auch, eben jene Krankheit, für die Luli Heilwasser besorgt und ihn damit gesund gemacht hatte, vor allem aber die Nachricht von Lulis Vater, der nach Amerika ausgewandert war, dass er für Luli und ihre Schwester Schiffsfahrkarten für die Überfahrt nach Amerika schicken würde. Wie eine dunkle Wolke hing das über Eli. Als dann die Fahrkarten tatsächlich eintrafen, verabschiedete sich Luli mit einem „verlass dich auf mich“, und das war nicht in den Wind der Überfahrt nach Amerika gesprochen.
Elis Leben ging weiter, er wuchs in die jüdischen Traditionen hinein und war schon fast erwachsen, als die nationalsozialistischen Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung erlassen wurden, als der Krieg begann, als er nach Auschwitz deportiert wurde.
Eli und sein Bruder überleben den Holocaust und beginnen nach dem Krieg ein neues Leben in Schweden. Hier spürt Luli Eli nach Jahren wirklich auf, und auch Eli begibt sich auf die Reise nach Amerika - zu Luli. Leben, auch davon gibt es zwei.
Rose Lagercrantz’ Tochter Rebecka begleitet die Erzählung von Eli mit lebendigen Aquarell-Illustrationen. Locker eingestreut in den sehr groß gedruckten Text zeigen sie Eli und Luli in Spielszenen, zeigen kleine Ausschnitte des Dorfes, wichtige Personen und Tätigkeiten, zeigen traditionelles jüdisches Leben. Immer geschieht mit ihnen eine kleine Unterbrechung, eine kleine Ablenkung und nicht zuletzt sind sie eine Augenweide.
Blumkas Tagebuch
Die polnische Autorin und Illustratorin Iwona Chmielewska hat mit „Blumkas Tagebuch“ einen anderen, indirekten Zugang gefunden. Am Anfang steht ein Bild – ein gezeichnetes „Foto“ einer Kindergruppe, hinter ihnen der „Herr Doktor“ Janusz Korczak, der Leiter des Waisenhauses, in dem diese Kinder leben. Blumka kennt sie alle, denn sie lebt dort, aus ihrem Tagebuch stammt das Bild. Blumka erzählt auf den folgenden Seiten zu allen auf dem Foto eine kleine Geschichte, die das jeweilige Kind in Wort und Bild fein und liebevoll charakterisiert. Und sie erzählt vom „Herrn Doktor“: Sie bewundert und liebt ihn dafür, dass er ihr aller Recht auf Eigenart und Unversehrtheit genauso ernst nimmt wie seine eigenen Pflichten im täglichen Zusammenleben.
Dann kam der Krieg.
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen musste Korczaks Waisenhaus 1940 ins Warschauer Ghetto umziehen, 1942 wurden alle Kinder und Korczak selbst ins Konzentrationslager deportiert und ermordet. Dieses Ende bleibt im Bilderbuch unausgesprochen, einzig ein gezeichneter Eisenbahnwaggon, ein Viehwaggon, deutet den Weg nach Treblinka an. Das Bild gehört nicht mehr zu Blumkas blauen, wie mit Kugelschreiber gemachten Tagebuch-Zeichnungen, es könnte sogar fast übersehen werden, weil es sich auf dem Buch-Vorsatz befindet. Es ist Kommentar der Autorin/Illustratorin und ein Gesprächsangebot für erwachsene MitleserInnen, wenn sie mit Kindern dieses ernsthafte und dabei so humorvolle Bilderbuch anschauen. Traurig wird solch ein Gespräch sein, denn für die mitlesenden Kinder sind alle Kinder auf dem Foto vertraut geworden und auch Blumka, die jedem Kind auf dem Foto ein Gesicht und eine Persönlichkeit gegeben hat, wäre eins der 200 Kinder, die zusammen mit ihrem „Herrn Doktor“ starben.
(Zwei Schauspielerinnen haben während eines Corona-Lockdowns für das Historische Museum Bielefeld "Blumkas Tagebuch" für eine "Lesegeschichte" bearbeitet, hörens- und sehenswert: Lesegeschichte #3 Blumkas Tagebuch)