Das Buch von allen Dingen

Buchcover "Buch von allen Dingen"

Thomas nennt es so, obwohl es eher ein Heft ist. Alles, was ihm auffällt, was ihm Sorgen macht, was ihn beschäftigt, schreibt er in sein Buch von allen Dingen. Zum Beispiel fragt er sich, woher die bunten Aquarienfische in der Gracht kommen (Thomas lebt in Amsterdam), die außer ihm offensichtlich niemand sieht. Oder ihm fällt auf, wie schön Elisa ist, die ein Bein aus Leder hat, das beim Gehen knirscht. Die leider schon 16 ist, die aber die Fische auch sieht!

Thomas ist neun, seine Schwester Margot geht schon aufs Gymnasium. Thomas hält sie für strohdumm, zu Beginn weiß er noch nicht, wie sehr er sich irrt.
Der Familienalltag wird von Gebeten, der Bibel und Gehorsam geprägt, Freunde, Musik, Lachen, Kinderbücher – Fehlanzeige. Thomas Vater ist ein Gottesmann, der die Seinen „mit harter Hand führt“, und der, wenn sie nicht auf dem rechten Weg wandeln wollen … er prügelt aus Thomas einen falsch verstandenen Satz der Gottesdienst-Litanei heraus und den lieben Gott gleich mit, und, für Thomas fast noch schlimmer, er schlägt seine Frau. Thomas wünscht „dem Mann“ mit schlechtestem Gewissen alle Plagen Ägyptens an den Hals.

Nebenan wohnt Frau van Amersfoort, eine Hexe, wie alle gemein sagen. Und tatsächlich, nachdem Thomas sie glücklicherweise näher kennengelernt hat, ist auch er überzeugt: Frau van Amersfoort ist eine Hexe. sie kann durch Wände schauen, besser: hören und Gedanken lesen, Thomas‘ Gedanken. Sie ist es, die für das Unaussprechliche Sätze findet und laut sagt. Damit verliert das Familien-Geheimnis seine Abgeschlossenheit und langsam kommt ein Prozess in Gang, der Thomas, seine Mutter, seine Schwester, seine Tante erfasst. Er heißt: keine Angst mehr haben und mündet in einen fröhlichen Vorleseabend mit Musik. Thomas‘ Vater steht plötzlich am Rand, er kann nicht mitmachen, seine Angst vor Freude ist zu groß.

Thomas‘ ganz eigene Stimme, die Niederschlag in seinem Buch von allen Dingen findet, schwankt zwischen 9-jähriger naiver Respektlosigkeit und einem tiefen Wissen von Ungerechtigkeit und Gewalt. Seine Entschlossenheit, glücklich zu werden, kann als ein Akt des Widerstandes verstanden werden und auch als ein Zeichen dafür, dass er intuitiv die Ängste seines Vaters erfasst.
Manchmal, und immer öfter, erscheint ihm der „Herr Jesus“, wenn er beim Beten die Augen schließt. Thomas darf ihn Jesus nennen. Mitten hinein in die Gebete des Vaters spricht Jesus mit Thomas, hört seinen Fragen zu, und sagt ihm, dass er ihn sehr mag. Leider kann er Thomas' Probleme und auch das seines Vaters nicht lösen. Das gilt auch für die Engel im Himmel, die zwar dafür sorgen können, dass „alles, was da wimmelt auf Erden“ still wird, wenn „dem Mann“ die Zornesröte ins Gesicht steigt, danach dreht sich die Erde aber einfach weiter. Es handelt sich dabei nicht um eine phantastische Ebene, die der Autor einzieht, sondern um die glaubhafte Darstellung der Wunschvorstellung eines empfindsamen Kindes in dieser religiös zementierten Lage: ein lebendiger, ihm zugewandter Himmel. Nur: Der reicht für Thomas‘ Rettung nicht. Dafür ist es wichtiger, die richtige Nachbarin zu haben. Und die mutigste Schwester der Welt.

Ein tolles, nachdenkliches Buch ab dem späteren Grundschulalter und alle darüber. Viele Preise hat es bekommen: den niederländischen Jugendbuchpreis "Goldener Griffel", in Deutschland den "Luchs" des Jahres 2006 und die Nominierung für den Deutschen Kinder-und Jugendliteraturpreis 2007.

Guus Kuijer
Das Buch von allen Dingen
Aus dem Niederländischen von Sylke Hachmeister
Oetinger Verlag
2006
96 Seiten
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