Mein Bruder und ich und die Katze im Wald

Sammlung: 
Buchcover "Mein Bruder und ich ..."

„Wir waren nach der Schule im Wald, mein Bruder und ich. Auf einem Baumstumpf sahen wir eine Katze, die weinte.“

Sofort befinden sich die Leser:innen in der Geschichte, die Hauptfiguren sind geklärt. Die Illustration definiert den Raum genauer. Den Wald als eine Art Kulisse, ein riesiger Baumstumpf, die Katze, die auf dem Buchcover fett und bedrohlich, jedenfalls kein bisschen lieb darauf hockt, wirkt hier klein und verschüchtert. Etwas außerhalb die Zuschauerbank, das Publikum (ein Steinpilz, ein Tintling, ein Täubling) scheint zu warten, was hier geboten werden wird. Es wird nicht enttäuscht!

Weil die Brüder nicht direkt fragen mögen, was denn mit der Katze los ist, verwandeln sie sich nacheinander in einen Wolf, in eine Spinne, in eine Taube. Die Katze hat sich verlaufen und will nach Hause, doch traut sie weder Wolf noch Spinne noch Taube. Dabei geben diese sich Mühe, denn es ist nicht einfach sich zu zweit in einen Wolf zu verwandeln. Der erzählende Bruder beschreibt: ich war das Gebiss, mein Bruder der Rest des Wolfes, ich war die acht Beine, mein Bruder der Rest der Spinne, ich war der Brief (im Schnabel der Taube), mein Bruder war der Rest.

Weil die Katze sich ziert, heißt es: „[da] wurden wir sauer, mein Bruder und ich“. Und schon sind sie wieder gewöhnlich und die Katze ist ein gewöhnliches Mädchen, das lautstark Hilfe für den Heimweg einfordert und das Publikum wächst wieder an seinem angestammten Platz auf dem Waldboden.

„Unterwegs gewöhnten wir uns an das Mädchen“, man sieht die drei fröhlich auf dem Heimweg spielen.

Das immer wiederkehrende „wir“, „mein Bruder und ich“ hat die Illustratorin zu absolut identischen Zwillingen inspiriert und es ist großartig, wie sie die zeichnerische Herausforderung von z.B. ‚ich war das Gebiss, mein Bruder der Rest des Wolfes‘ meistert, wie sie die Brüder aus ihrer jeweiligen Verwandlung aussteigen und die nächste angehen lässt! Viele Illustrations-Fäden durchziehen die Seiten. Ein roter Stiefel, die drei Vögel vom Vorsatzpapier, Achtung-Schilder im Wald, immer noch ein bisschen Spinnenfaden oder Wolfschemen. Das „Publikum“ lebt die Handlung mit, ist erschrocken, gespannt oder drückt sich in seinen Sitz. Und die Leser:innen? Die haben viele Möglichkeiten, die Handlung zu deuten. Was wird hier gespielt? Wird gespielt? Jedenfalls ist den Brüdern die Katze nicht geheuer und dieses Gefühl ist auch umgekehrt vorhanden.

Das letzte Bild zeigt die Brüder Hausaufgaben machend am Tisch sitzen, jeder hat ein Stück des Weges, auf dem sich die Katze entfernt, in der Hand. Zwischen ihren blauen Stiefeln steht der rote des Mädchens wie eine Trophäe. Wessen Trophäe? Einer der Brüder wird der sein, der immer „der Rest“ sein musste. Ist es der, der nachdenklich aus dem Buch rausschaut, während der andere selbstverständlich schreibt? Oder sind es überhaupt zwei Brüder? Vielleicht zeigen sich auch "nur" Facetten einer Person: die in sich ruhende, gewisse und auch forsche Seite, die nach der aufregenden Begegnung ruhig Hausaufgaben machen kann, und "der Rest", leiser, ängstlicher und nachdenklicher ...

Der lakonische und letztlich zurückhaltende und schlichte Text dieses Buches erschien zuerst in Jürg Schubigers berühmter Sammlung „Als die Welt noch jung war“ (Verlag Beltz und Gelberg). Überbordend sind die Illustrationen von Eva Muggenthaler, trotzdem kann der Text bestehen.

Ein wunderbar vielschichtiges Bilderbuch für Kinder und Erwachsene.

Jürg Schubiger
Mein Bruder und ich und die Katze im Wald
Illustration: 
Eva Muggenthaler
Peter Hammer Verlag
2021
24 Seiten
Rubrik: