Das Mädchen unter dem Dohlenbaum

Buchcover Das Mädchen unter dem Dohlenbaum

Ein Mädchen, sie ist das namenlose Ich dieses Buches, wartet vor dem Bahnhof auf ihre Mutter, die Fahrkarten kauft – für einen Ort, der ein neuer Anfang werden soll. Sie wartet unter dem großen Baum, in dessen Zweigen eine lärmende Dohlenschar sitzt. Wie die Dohlen, die allesamt rauschend einem einzelnen auffliegenden Vogel folgen, folgen die Leser:innen den Gedanken des Mädchens unter dem Baum.
Ihr Vater ist gestorben, und sie erinnert sich an ihn, als er noch nicht Vater, sondern ihr Papa war und sie spüren konnte, wenn sie auf seinem Schoß saß, dass sein Herz schlug. Aus ihrem Gedankenstrom spricht ihre tiefe Trauer und wie erfüllt sie von ihren Erinnerungen ist, den schönen, den schmerzlichen, den heiteren. Manchmal glaubt sie ihren Vater zu sehen, am Fenster gegenüber, in ihrem Lehrer, wie ein Blitz passiert das. Sie vermisst ihn, ja, mit Vermissen kennt sie sich jetzt hervorragend aus. Ob sich auch Bäume erinnern? Ob der Baum die Vögel vermisst, die gerade noch in seiner Krone saßen? Die Vögel werden zurückkehren, das weiß sie, ebenso gewiss ist, dass ihr Vater für immer im Himmel bleibt. Sie kann ihn dort nicht besuchen, dafür müsste sie erst sterben.  Sicher ist aber auch, dass ihr Vater aus dem Himmel nach ihr und ihrer Mama schaut, nach ihr wahrscheinlich ein bisschen mehr, weil sie das Kind ist.
Die Gedanken des Mädchens berühren uns sehr. Schnörkellos und bar jedweder Sentimentalität klingt ihre Sprache. Die Leser:in klappt dieses Buch still zu: ja, man ist einfach sehr traurig, wenn der Papa gestorben ist.
So beeindruckend und klar wie die Erzählung sind die Bilder, die Kristiina Louhi geschaffen hat. Volles Türkis, orangene, rote, pinke und rosa Kreiden wählte sie für das Mädchen. Es befindet sich meistens zentral auf dem Bild, das immer über den Mittelfalz des Buches hinaus reicht. Das Mädchen steht/sitzt/liegt in einem übersichtlichen räumlichen Kontext: Schultafel, ein Küchentisch mit Stuhl vor einem Fenster, das Bett, ein Strand, ein Weg. Die heitere Farbpalette wird mit Schwarz und Grautönen für die Dohlenbilder kontrastiert. Dunkelheit, Traurigkeit, Klarheit und Heiterkeit klingen auch in den Bildern an.
„Ich hüpfe auf einem Bein zu Mama. Eins, zwei, drei – wenn ich’s mit weniger als 20
 Hüpfern bis zur Treppe schaffe, finde ich an dem neuen Ort schnell Freunde. Mama muss lachen. Sie zählt mit und winkt im Takt mit den Fahrkarten. Zwölf , dreizehn, vierzehn – dann bin ich schon da.“

„Das Mädchen unter dem Dohlenbaum“ ist schon längere Zeit vergriffen und war auch auf dem Gebrauchtmarkt nicht zu finden. Jetzt ist es dort in einigen Exemplaren wieder erhältlich, und hoffentlich noch im Bestand von vielen Bibliotheken aufgehoben.
Wie wunderbar wäre es, der Hanser Verlag würde die Anstrengung unternehmen, dieses Buch neu aufzulegen. Ein sowohl literarischer als auch bildnerischer Gewinn wäre das – und der Boden für ein solch nachdenkliches Buch über Trauer und Tod für alle ist meiner Einschätzung nach heute besser bereitet als vor 20 Jahren.

Riita Jalonen
Das Mädchen unter dem Dohlenbaum
Illustration: 
Kristiina Louhi
Aus dem Finnischen von Anu Pyykönen-Stohner
Hanser Verlag
2007
o.p.
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