Der Illustrator Wolf Erlbruch ist gestorben. Das war kurz vor Weihnachten 2022 eine traurige Nachricht.
Seit 1985, seit dem Erscheinen von „Der Adler, der nicht fliegen wollte“, waren (und sind) seine Bilder und Bücher aus dem Sortiment eines Kinderbuchladens und aus einem Kinderleben mit Büchern nicht wegzudenken. Jahrelang hat sein „Kinderzimmerkalender“ in vielen Familien-Küchen und Kinderzimmern gehangen und alle, die in den vergangenen Jahren z.B. im Buchladen „Kronenklauer“ arbeiteten und jetzt dort arbeiten, haben Erlbruch-Favoriten, meistens mehrere. „Nachts“ (in dem es Fons, der nicht schlafen kann, gelingt, seinen müden Papa in die Nacht hinaus zu lotsen. Fons sieht wunderbare Dinge, während der Papa, schlurfend vor sich hin schwadronierend, nichts wahrnimmt), oder „Frau Meier, die Amsel“ (in dem eine ängstliche und übervorsorgliche Frau Meier eine verletzte Amsel pflegt und mit ihr fliegen lernt), „Ente, Tod und Tulpe“ (in dem eine schnattrige, unbekümmerte Ente eines Tages ihren Tod kennen lernt und sich mit ihm befreundet). … Im Falle von „Der Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hatte“ sind Erlbruchs Bilder so prägend und mit der Geschichte verwachsen, dass nicht wenige ihm auch den Text zuschreiben (welcher von Werner Holzwarth stammt).
Neben den bekanntesten aller bekannten Erlbruch-Bilder und Erlbruch-Büchern gibt es aber auch die, die verborgener geblieben sind. Um die geht es in diesem „Triple“.
Neues ABC - Buch
„Das offene Auge sieht ins Buch
Das Buch macht junge Kinder klug“
So fängt es an, doch nicht allein das Sehen, sondern hören, riechen, schmecken, fühlen braucht ein Mensch, um die Welt zu erfahren. Und das Denken, um zu ordnen, zu vergleichen und zu unterscheiden, kurz, um zu verstehen und zu handeln. Moritz, dessen Buch zuerst 1790 erschien, von ihm selbst illustriert, spannt einen Lehr-Bogen entlang des ABC’s vom offenen Auge bis zum Ende aller Fähigkeit, etwas wahrzunehmen: bis zum Tod. Er leitet zum Lesen an und vermittelt gleichzeitig, dass, wer liest, die Ich-Perspektive verlassen kann und über die eigene Beschränktheit hinausschauen kann.
Die ABC-Folge ist in 25 Bildunterschriften integriert (hier sind es die Bilder von Wolf Erlbruch), die sich wie oben zitiert paarweise reimen. Zusätzlich vertieft der Autor jeden Vers mit kurzen Sätzen, die an junge Leser:innen adressiert sind, oft mahnend und belehrend. Für Kinder heute eher befremdlich und dazu in ihrer Wortwahl befremdlich schön. Über den Nutzen von Kleidung und Wohnung heißt es zum Beispiel: „Man sieht den Regen durch das Fenster und wird doch nicht benetzt“. Vielleicht gefällt Kindern das trotzdem?
Es geht ernsthaft zu in diesem ABC-Buch, es kommt mit seinem Anliegen auf Bildung der jungen Kinder streng aus dem 18. Jahrhundert in unsere Zeit. Der Text verzichtet auf Wort- und Buchstabenspielereien, auf Komik und Nonsens. Erlbruchs Bilder dagegen sind rätselhaft, ironisch und entlarvend. Auch erläuternd wie Sachzeichnungen, manchmal mit komischen Details, dann wieder nachdenklich. Seine Collage-Technik mit vollgeschriebenen Rechen- und Linienpapieren, Packpapieren, Schnittmusterbögen auf leerem oder einfarbigem Grund scheint für dieses Buch besonders gut zu passen. Erlbruch setzt aber auch Scherenschnitt neben altmeisterlich gestrichelte Bleistift- und Buntstiftzeichnung, verwendet Kreiden, Pinsel und Farben, für manche Bilder alles zusammen.
Ein buchstabierendes Kind bildet Anfang und Ende von Erlbruchs Bilderreigen. Die Darstellung legt nahe, dass Lernen wohl auch ein dornenreicher Weg ist. Denken ist eine angenehme Sache, schreibt Autor Moritz an die Kinder. Beides ist im 21. Jahrhundert noch richtig.
Die Katzen von Kopenhagen
„Leider kann ich dir keine Kopenhagener Katze schicken, weil es in Kopenhagen keine Katzen gibt.“
Es ist zu lesen, dass James Joyce für seinen fünfjährigen Enkel eine mit Süßigkeiten gefüllte „Katze“ mit nach Hause bringen wollte (zu jenen Zeiten wohl beliebt in Irland). Aber das zu wissen, ist nicht so wichtig, weil dieser schräg klingende Eingangs-Satz durchaus zu den kommenden passt. Die Geschichte funktioniert auch, wenn nicht besser, mit der Vorstellung von echten Katzen, in die sich der Erzähler letztlich auch hineinschreibt und in die sich auch Erlbruch hineinzeichnet.
Es gibt jede Menge Fisch und Fahrräder, aber keine Katzen und auch keine Polizisten in Kopenhagen! Letztere liegen nämlich den ganzen Tag im Bett, rauchen und trinken Buttermilch. Sie haben ihre roten jungen Jungs, die zuhauf mit dem Rad herumfahren, alle notwendigen Informationen einsammeln, den Polizisten ans Bett bringen, und dann die polizeilichen Befehle ausführen (zum Beispiel einer alten Frau über die Straße zu helfen). Er werde eine Katze mitbringen, wenn er noch einmal nach Kopenhagen komme, sinniert der Erzähler, die könne doch der alten Frau ….
Erlbruch zeichnet dazu ganzseitige, sehr „kätzische“ Katzenbilder, wie alle anderen Bilder großzügig und schwungvoll mit Kreide aufs Blatt geworfen. Ein paar Striche kennzeichnen Räume und es geht farbig zu – rot, gelb, blau, grün, orange, rosa. Nur wenige Figuren füllt Erlbruch aus, fast alles bleibt linear mit ein paar Akzenten: gerötete Nasen und Wangen zum Beispiel, oder blaue Kappen, oder Katzenfell. Erlbruch zeigt sich als großartiger Zeichner. Kein anderes seiner mir bekannten Bilderbücher ist in dieser Hinsicht mit den „Katzen von Kopenhagen“ vergleichbar.
Das ungleichzeitige Meister-Trio James Joyce / Wolf Erlbruch / Harry Rowohlt hatte offensichtlich großen Spaß an dieser überbordenden, skurrilen Flunkergeschichte. Das Ergebnis ist ein umwerfendes Buch für Kleine und Große!
Olek schoss einen Bären (und nähte sich aus dem Fell eine Mütze)
„[…] danach küsste er seinen Vater und seine Mutter und ging seiner Wege. ‚Ich will sehen, ob ich
Irgendwo etwas tun kann‘, rief er über die Schulter. ‚Tu’s vor allem vorsichtig!‘, riefen ihm sein Vater und seine Mutter nach. Olek trug die Nase weit weg vom Boden. Mit den Händen schob er den Gegenwind zur Seite. Aus seinen Schritten machte er Sprünge.“
Dass dieser vor Lebendigkeit strotzende (aber auch etwas naive) Olek Großes vollbringen kann – das scheint mal klar. Umso überraschender ist, dass seine „einstweilen guten Taten“ kleine Dinge sind: kürzeste Schnürsenkel binden, Löcher in einem fast verlorenen Eimer abdichten, ein Kaninchen aus einer Falle befreien (obwohl „vermutlich ganz in der Nähe gleich ein anderes Kaninchen in eine Falle laufen würde“). Der rote, scheinbar verletzte Vogel, um dessentwillen Olek gefährlich hoch klettert, will offensichtlich nicht gerettet werden. Olek erwischt nur eine rote Feder.
Die großen Prüfungen warten aber noch, denn Olek findet sich, nach seinem Sturz von jenem Baum, mit zwölf Mädchen und elf vergeblichen und darum versteinerten Helden vor dem dampfenden, fauchenden Tor zur Hölle. Der Teufel selbst tritt daraus hervor, um „seine“ Mädchen zu verteidigen. Ein ungleicher Kampf, aber Olek wird nicht allein, sondern mit vielen Leuten und verliebt nach Hause kommen.
Bart Moeyaerts Text bearbeitet verschiedene Märchen und Märchen-Motive – der Feuervogel, Jorinde und Joringel, magische Dinge und Zahlen – und verdichtet das zu einer spannenden, immer vorwärts treibenden Geschichte, in der kein Wort zuviel ist, die … glücklich macht!
Wolf Erlbruch zeichnet auch zu diesem Text vielfach linear, bezieht aber auch seine Collage-Technik mit ausgeschnittenen, eingefügten Figuren ein. Magisches (Feuer) Rot trägt Olek im Gesicht, auf dem Kopf immer die Pelzmütze aus Bärenfell. Nicht nur aus dem Text, auch aus Erlbruchs Bildern steigt jemand, der mit den Händen den Gegenwind zur Seite schieben kann.
„Olek schoss einen Bären“ ist eine ganz und gar gelungene Zusammenarbeit dreier in ihrem jeweiligen Fach meisterlicher Künstler:innen: Bart Moeyaert, Wolf Erlbruch, Mirjam Pressler (Übersetzung ins Deutsche).