Alles fließt - was ist ein Fluss? Leben auf jeden Fall, Bewegung, Verbindung, Treffpunkt, Wohnort, Energie: lebenswichtig für die Menschen.
Fiume lento
In Deutschland erschien "Fiume lento", "Langsamer Fluss", "Lazy River", im Verlag Peter Hammer unter dem Titel "Der Fluss". Leider ist es inzwischen vergriffen. Leser:innen können aber auch mit der italienischen Original-Ausgabe zufrieden sein, denn es gibt keinen Text zu verstehen, statt dessen zu schauen!
Jede Buchseite, von der ersten bis zur letzten, ist in vier Bilder quer über die Seite aufgeteilt, ingesamt machen Lese:innen in der Tat eine Reise entlang des Flusses, "longo il Po". Alessandro selbst sagt: "für das Wasser muss man Wasser nehmen , für den Himmel muss man Wasser nehmen, für das Land muss man Wasser nehmen, für alles ..." So folgen wir seinen Aquarellen mit dem Rad, mit dem Boot, mit dem Auto durch die Jahreszeiten. Im Herbst schüttet und schüttet es, die Pappeln entlang des Flussufers sind kaum noch zu erkennen. Menschen und Tiere retten sich vor dem Hochwasser auf das höhere Ufer. Im Winter stehen die Pappeln und Weiden dürr gegen den Himmel und den Fluss, es ist kalt, im Dorf wird ein Kalb geboren. Im Frühling blühen die Pappeln weiß. In langer Kolonne kommen Schausteller ins Dorf, es wird gefeiert, ein Dorffest, eine Hochzeit. Man tanzt am Ufer, auf einem Schiff, es gibt prächtige Sonnenuntergänge hinter dem Horizont des Flusses zu sehen, die Nacht wird zum Tag. Dann der Sommer. Gleißend steht die Sonne über dem Fluss, er ist schmal geworden. Ein Sommerzirkus tränkt seine Tiere am Fluss, ein Tiger entweicht ...
Die Allgegenwärtigkeit des Flusses für die Menschen an seinem Ufer ist auf jeder Seite des Buches zu spüren, auch die Liebe des Malers für seinen "fiume lento". Wieviele Tage und Stunden mag er am Ufer gesessen haben?
Ein kontemplatives Schau-Erlebnis, aber auch ein Such-Erlebnis nach den Geschichten, die sich am Fluss abspielen - für jede und jeden.
Was ist ein Fluss?
"Wir sind am Fluss, Oma und ich. Ich pflücke Blumen. [..] Oma hat Stoff, Nadel und Faden dabei. Sie stickt eine Decke. Der Fluss glänzt. [..] Fluss, wer bist du? Oma, was ist ein Fluss?"
Dann breitet die Oma auf reich und wunderbar illustrierten Doppelseiten "Flusswissen" und "Flussgedanken" aus:
Ein Fluss ist ein Faden: er bildet schöne Muster auf der Erdoberfläche.
Ein Fluss ist ein Zuhause: für Wasserschweine zum Beispiel, Flusspferde, Wasserläufer, Eisvogel, für erste Zivilisationen.
Ein Fluss ist ein Name, viele heißen wie das Land, durch das sie fließen: der Kongo, der Sambesi, der Mississippi. Andere Flussnamen haben Geschichten, z. B. soll der Name "Amazonas" auf eine Begegnung mit den Amazonen, kriegerischen Frauen, verweisen.
Ein Fluss ist eine Reise: ein Flus kann fast überall beginnen, er nimmt Anlauf, macht eine kleine Verschnaufpause und nimmt dann volle Fahrt auf.
Ein Fluss ist Lebenskraft: er schenkt ausgetrockneten Böden neues Leben.
Ein Fluss ist ein Treffpunkt: um Flüsse herum leben sehr viele Menschen, an Flüssen treffen sich Wanderer und Pilgerinnen, Händler, Schmuggler ...
Ein Fluss ist Energie: die Kraft des Flusses ist mächtig und wer einen Fluss lenkt, oder umlenkt, hat eine große Verantwortung.
Ein Fluss ist ein geheimnisvoller Ort mit Tiefe, mit Erinnerung, mit Nebelwesen und phantastischen Erscheinungen ...
Ist das ein Bilderbuch? Ein Sachbuch? Beides! Und eins, das mit seinen poetischen Bildern (Buntstift, Kreide, manchmal Farbtupfer ..) seine Leser:innen, junge und ältere, sofort erreicht. Und das, obwohl das Setting Oma-Enkelin-Kranz-binden-Decke-sticken irgendwie altmodisch anmutet. Auch ist der Fluss, an dessen Ufer Oma und Enkelin sitzen und die Gedanken "fließen" lassen, nirgends konkret verordnet, was die Allgemeinheit von "Ein Fluss ist .." unterstreicht. Trotzdem werden auf jeder Seite eigene Vorstellungen von Flüssen und eigene Flusserlebnisse wach gerufen. Eines der schönsten Bücher des Jahres 2022 - gerade wurde es für den Jugendliteraturpreis 2023 in der Sparte Sachbuch nominiert.
Ich bin wie der Fluss
Auch dieses Buch gewinnt die Leser:in sofort. Es handelt von einem Kind, das stottert. Das viele Wörter im Kopf hat, sie aber nicht aussprechen kann: "Das B im Baum treibt Wurzeln in meinem Mund und umzingelt meine Zunge". Ein Kind, das still seine Haferflocken isst, sich in der Schule in der letzten Reihe versteckt und hofft, nicht dran zu kommen.
Nach einem besonders schlimmen Schultag fährt der Vater mit dem Kind an den Fluss. Es ist ein großer, mächtiger Fluss, in dem Fische springen. "Schau", sagt der Vater, "du bist wie der Fluss". Der Fluss sprudelt, gischtet, wirbelt, drängt vorwärts ..
Letztlich verstehe ich den Vergleich des Vaters nur halb. Was meint er? Dass ein Fluss jedes Hindernis umsprudelt? Meint er, du kannst sein wie der Fluss - nimm seine Ruhe auf, seine Stetigkeit in der Bewegung? Können Stromschnellen mit dem stillen Wasser danach mit "stottern" verglichen werden? "Stottert" ein Fluss? Oder liegt die Kraft der Worte des Vaters in der Situation? Vater und Kind zusammen an einem stolzen Fluss? Kraft haben diese Worte, wie auch immer zu verstehen, auf jeden Fall, das sagen die Wörter, das zeigen die Bilder - intensive und "mächtige" Aquarelle.
Die Autoren schaffen ein beeindruckendes Wort- und Bilderlebnis. Der kanadische Illustrator zeigte sein Können schon in dem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 ausgezeichneten Bilderbuch "Unsichtbar in der großen Stadt". Auf Deutsch sind auch "Stadt am Meer" und "Überall Blumen" erschienen.