Das Weite suchen ... dieses Motiv verbindet die drei rezensierten Bücher, allerdings jedes Mal anders konnotiert.
Einmal wird ein in weiter Ferne liegendes Erwachsenenleben vorbereitet, aktuell ist jedoch ein fluchtartiges Das-Weite-Suchen notwendig. Ein anderes Mal schmiedet die Protagonistin einen Plan abzuhauen, zurück in eine Heimat, die sie verloren zu haben glaubt. Im dritten Fall erweist sich die Nähe als die gesuchte, ersehnte Weite.
Viel Vergnügen!
Irgendwo ist immer Süden
Ina hadert mit ihrem sozialen Status. Sie will dazu gehören, obwohl sie in Tyllebakken („Güllebakken“ sagen sie) wohnt, mit desolater Mutter und zu wenig Geld für z.B. einen Urlaub in den Sommerferien. Und so sagt sie – kaum, dass sie das gedacht hat: ich fahre in den Süden! Wie? Die coolen Mädchen mit Spanien- und Mallorca-Reiseziel glauben das nicht so recht, aber da ist die letzte Stunde vor den Sommerferien auch schon aus. Einzig Hilmer, ein neuer Schüler, hat mit Selbstverständlichkeit erzählt, dass er zu Hause bleibt, weil ein Urlaub nicht drin ist. Hilmer, ein Losertyp, wie Ina denkt, wohnt auch in Tyllebakken.
Damit sind alle Eckpfeiler des Romans gesetzt – die Geschichte zwischen Ina und Hilmer kann beginnen. Hilmer findet nämlich heraus, dass Ina sich aus Angst vor dem Platzen ihrer Lüge in der Wohnung verschanzt und mit größter Beharrlichkeit lockt er sie schließlich nach draußen. Er zeigt ihr die alte, gammlige, leerstehende Hausmeisterwohnung, und dann entwickelt sich ein Spiel, für das die beiden eigentlich schon zu alt sind: sie richten sich mit wachsendem Eifer ein „Süden“ ein, inclusive Meer und Strand, Sonnenschirm und Club-Cocktails und ihrer guten Ferienfreundschaft. Natürlich müssen die beiden in die wirkliche (Schul-)Welt zurück. Die Leser:innen halten den Atem an, als sich abzeichnet, dass Ina wieder nicht zu sich und damit auch nicht zu Hilmer stehen wird…
Absolut lesenswert ab 10 Jahren
Elektrische Fische
Dieses Buch handelt vom Heimweh nach – ja, nach was eigentlich? Nach Vertrautheit mit Menschen, mit Landschaft, mit Sprache vor allem und mit Gerüchen vielleicht. So ist es für Emma, die mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter aus Dublin in die mecklenburgische Provinz ziehen muss. So ist es vielleicht für Emmas Mutter 20 Jahre lang in Irland gewesen, das dämmert der Ich-Erzählerin aber erst später. Emma will zurück nach Dublin, lieber heute als Morgen. Ihre kleine Schwester Aoife verstummt, nachdem in der Schule ihr Name zu „Affe“ verballhornt wird und von Dara, dem älteren Bruder, erfahren die Leser:innen nicht viel.
Zum Glück lernt Emma Levin kennen. Er wird ihr helfen abzuhauen, ungeachtet seines eigenen Päckchens, das er zu tragen hat, welches Emma aber lieber von sich fern hält. Levins Pläne entwickeln sich sehr konkret, bei allem Ernst haben die Stellen verhaltenen Witz, in denen er mit Emma übt, sich auf die Fähre zu schmuggeln, indem sie sich „einfach“ zu einer Familie stellen und so tun soll, als gehöre sie dazu. Allerdings werden Levins Bemühungen immer wieder mit Seitenblicken gebrochen: willst du wirklich weg? Tatsächlich weiß Emma das manchmal selbst nicht. Sie beginnt, die Ostsee zu mögen, Levin zu mögen, sie bemerkt die kleinen Annäherungen der spröden Großeltern, außerdem ist klar, dass sie erst gehen kann, wenn Aoife wieder spricht. Als der Tag der Umsetzung des Fluchtplans dann doch kommt, geht mit erheblicher Dramatik alles ganz anders aus als gedacht und Emma kann sich am Ende trotz Abschiedsbrief und trotz viel zu großem Rucksack für den vorgetäuschten Schwimmausflug einfach zu ihrer Familie stellen.
Ein tolles, mit sehr eigener Stimme erzähltes Buch für Jugendliche ab 12 Jahren.
Die Gespenster von Demmin
Wer wie Larry Kriegsreporterin werden will, tut gut daran, rechtzeitig „aushalten“ zu üben: Hände in Eiswasser halten, so lange wie möglich, Luft anhalten, auf dem Kopf hängen, so lange wie möglich. Mit Timo, der Larry vom Eis gerettet hat, in das sie eingebrochen war, geht Larry „professionell“ um, denn als Kriegsreporterin kann man sich auch nicht immer aussuchen, auf wen man angewiesen ist. Bissig und flapsig ist Larrys Ich-Erzählung! Nach und nach lernen die Leser:innen ihre Lebens-Baustellen kennen, die ihr cooles Auftreten brechen. Das sind ein Vater, der die Familie verlassen hat, ein neuer peinlicher Freund ihrer Mutter und dann noch solche, über die geschwiegen wird. Da kommt Timo überhaupt nicht recht, in dessen gute Schultern ausgerechnet Larrys beste Freundin verknallt ist.
Die große Hintergrund-Baustelle, die ganz Demmin beschattet, ist dabei noch gar nicht genannt: am Ende des zweiten Weltkrieges nahmen sich hunderte Menschen, vor allem Frauen mit Kindern, das Leben; aus Angst vor den Soldaten der roten Armee und weil die fliehende Wehrmacht ihnen den Fluchtweg abgeschnitten hatte. Diese Geschichte erfahren wir in einer Parallelerzählung. In jener soll die alte Frau Dohlberg aus dem Nachbarhaus ins Seniorenheim ziehen und begegnet beim Zusammenräumen ihrer Sachen den Gespenstern der Vergangenheit. Ihre Mutter und ihre kleine Schwester starben damals im Fluss, sie selbst rettete sich.
Wie die beiden Erzählstränge erst nebeneinander laufen, sich dann umeinander winden und sich im Gedanken „nur weg von hier“ treffen, sich auch in Timos und Larrys ganz unterschiedlichen Fragen an „damals“ treffen, das ist sehr gelungen. Kein Mal kommt die Leserin auf den Gedanken, es könnten in diesem Buch zu viele Probleme verhandelt werden, denn die Sprache ist gradlinig, kein bisschen heischend, aber doch poetisch und ergreifend und genau richtig schnoddrig, wenn Larry spricht. Frau Dohlbergs Flucht endet im Tod, Larrys im Leben, im gegenwärtigen Leben.
Für Jugendliche ab 14 Jahren